„Der Ausnahmezustand ist (fast) Normalzustand“ - mit Tübingens Sozialbürgermeisterin Daniela Harsch im Gespräch

Veröffentlicht am 20.05.2020 in Interview
BM Harsch

Wie geht es dir persönlich und im Job nach 5 Wochen Corona-Alltag?

Nach fünf Wochen Corona-Alltag ist der Ausnahmezustand fast Normalzustand geworden. Wir haben uns sehr schnell eingespielt, haben den Krisenstab eingerichtet, der immer noch täglich tagt, wir haben vieles auf Videokonferenzen umgestellt und sind, was die Verwaltung intern und die notwenigen Außenkontakte angeht, mittlerweile wirklich professionell aufgestellt.

Für mich persönlich bedeutet die momentane Situation eine Mischung aus maximaler Anspannung und totaler Entschleunigung. Mein Dezernat besteht aus sehr vielen Bereichen, die repräsentative Termine beinhalten. Diese fallen zurzeit alle weg. Gleichzeitig stehen wir enorm unter Strom und regeln jeden Tag Dinge, über die wir uns vorher noch nie Gedanken machen mussten.

Für welche Bereiche, die mit der Pandemie zu tun haben, bist du in Tübingen zuständig?

Wenn man es genau nimmt, bin ich für alle Bereiche zuständig, die mit der Pandemie zu tun haben. Für Schulen und Kitas, für den Sport, also für alle Hallen, die wir schließen mussten. Ich bin zuständig für den gesamten Sozialbereich, wo wir ein Corona-Nottelefon für Bürgerinnen und Bürger eingerichtet haben. Wir organisieren den Ersatz für die Tafel, wir organisieren Einkaufshilfen und koordinieren Ehrenamtliche. Wir sind auch zuständig für das Thema Geflüchtete und für die Sozialhilfe. Da ging es in den ersten Wochen vor allem darum, keine blinden Flecken zu entwickeln, weil eine Verwaltung nur noch auf Notbetrieb fährt.

Darüber hinaus bin ich zuständig für die Feuerwehr, die derzeit unter besonderen Bedingungen arbeitet, und fürs Ordnungsamt - und damit für die Sicherheit auf dem Testgelände, wo bei uns die Tests gemacht werden. Ich bin verantwortlich für die Kontrolle aller Verordnungen, die vom Land kommen und auch für die Kultur, wo wir es bereits mit existenzbedrohenden Situationen zu tun haben.

 

Was waren die größten Herausforderungen, die du in den letzten Wochen lösen musstest?

Die Herausforderungen im Einzelnen kann ich gar nicht mehr aufzählen… Es sind jeden Tag neue Herausforderungen und neue Entscheidungen, die wir treffen müssen. Entscheidungen, von denen wir niemals gedacht hätten, dass wir sie jemals treffen müssten.

Das waren zu Beginn auch sehr harte Einschnitte, vor allem auch, bevor das Land sich stärker eingebracht hat und entsprechende Verordnungen verabschiedet wurden. Wir müssen jeden Tag schauen, wie wir unsere Stadt im Notbetrieb organisieren. Wie stellen wir sicher, dass wir in dieser schwierigen Zeit niemanden, also auch wirklich niemanden, vergessen? Wie sorgen wir dafür, dass die Vorschriften eingehalten werden und die Menschen sich gleichzeitig immer noch wohl fühlen können? Und wie schaffen wir es, mit dem nötigen Augenmaß, mit der nötigen Mischung aus Strenge und Freundlichkeit dafür zu sorgen, dass die Regeln eingehalten werden, die notwendig sind, um diese Pandemie einzudämmen.

 

Was hat dich in dieser Zeit positiv überrascht?

Mich hat sehr vieles positiv überrascht. Wir haben – und das ist für Tübingen eigentlich auch typisch – sofort sehr viele Ehrenamtliche gehabt, die bereit waren, zu helfen, die sich einbringen wollten.

Mich freut es sehr, wie flexibel unsere Verwaltung ist. Wie schnell es gelungen ist, unter anderen Bedingungen zu arbeiten und immer noch verlässlich für die Maschen in der Stadt da zu sein. Es sind diese vielen kleinen Beiträge, die diese Zeit aber auch ausmachen.

 

Wer sind deine persönlichen Corona-Heldinnen und Helden?

Meine Heldinnen und Helden der aktuellen Zeit kann ich gar nicht einzeln aufführen. Letztlich sind es alle, die die Gesellschaft am Laufen halten. Die dazu beitragen, dass es gelingt, Krankenhäuser, Pflegeheime, aber auch Supermärkte offen zu halten. Aber auch all diejenigen, die hinnehmen, dass wir in einer schwierigen Situation sind, die fragen, wie sie sich einbringen können und die für andere da sind.

 

Du bist unter anderem zuständig für die Kitas. Hast du eine Perspektive, die du Eltern und Kindern, aber auch den Trägern geben kannst?

Die Perspektive für die Kitas hätte ich mir tatsächlich anders gewünscht. Das Land öffnet die Kitas nun für alle Kinder, deren Eltern von ihrem Arbeitgeber eine Präsenzpflicht am Arbeitsplatz bestätigt bekommen. Das führt zumindest in Tübingen dazu, dass wir innerhalb kürzester Zeit von einem Notbetrieb in einen fast Vollbetrieb gehen müssen. Gleichzeitig sollen wir die Gruppengrößen halbieren und die Risikogruppen unter den Mitarbeitenden nicht einsetzen. Für uns ist das kaum zu schaffen. Wir haben bei den Ü3-Kindern eine 100%-Betreuungsquote und fast 50% bei den U3-Kindern. Es ist sehr schwierig, das alles hinzubekommen und gleichzeitig den Beschäftigten, den Eltern und vor allem den Kindern gerecht zu werden.

 

Die Kommunen bewegen sich gerade auf katastrophale Finanzlagen zu oder befinden sich schon darin. Welche Erwartungen hast du an Bund und Land?

Ich habe die Erwartung an Bund und Land, dass man nach dieser Krise Bilanz zieht und klar definiert, wer ist für welche Ausfälle zuständig, wie verteilen wir das Geld, das noch da ist und vor allem auch, auf wessen Schultern verteilen wir die Last dieser Pandemie, die uns natürlich in den Kommunen hart trifft. Der Rückgang der Steuereinnahmen, all die Förderprogramme, die wir kurzfristig gestartet haben, um unsere Innenstädte lebendig zu halten. Es werden sich gerade auch bei zukünftigen Ausgaben Fragen stellen wie: Gibt es Investitionsprogramme?  Gibt es stärkere Unterstützung bei Ausbau bzw. Betrieb der Kitas oder Schulkindbetreuung? Hier würde ich mir ein deutlich stärkeres Engagement des Landes wünschen, auch wenn ich diese Forderung bereits vor der aktuellen Krise geäußert hatte.

 

Wenn du dir vorstellst, im Jahr 2025 zurückzublicken: wird sich – und wenn ja, wie – unsere Gesellschaft aufgrund dieser Erfahrung, die wir gerade alle gemeinsam machen, verändert haben?

Ich denke, dass sich unsere Gesellschaft an 2020 zurückerinnert, als ein Jahr voller Herausforderungen. Aber auch als ein Jahr, das uns noch einmal deutlich gemacht hat, was wirklich wichtig ist, nämlich gesellschaftlicher Zusammenhalt, feste Bindungen, ein guter Umgang im Privaten und Offenheit und Klarheit in der Kommunikation in allen Bereichen.

Ich würde mir wünschen, dass man zurückblickt und sagt: Ja, keiner wusste, was auf uns zukommt, aber wir hatten immer das Gefühl, mitgenommen zu werden und diesen Weg gemeinsam zu beschreiten. Es gab keinen Probelauf für das, womit wir damals konfrontiert waren, aber wir ziehen im Nachhinein gemeinsam Bilanz, welche Entscheidungen richtig waren und welche Entscheidungen hätten anders getroffen werden können oder müssen. Und das alles in dem Bewusstsein, dass wir  niemals zuvor mit einer solchen Situation konfrontiert waren.

(Das Interview erschen in der DEMO, 8.5.2020)

 

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